Zukünftige Herausforderungen für die EU
Der Rückblick auf gut 50 Jahre EU zeigt, dass die Gemeinschaft ihr wesentlichstes Ziel erreicht hat: Aus dem vom Krieg innerlich und äußerlich zerstörten Europa ist ein Europa des Friedens und des Wohlstands geworden. Europa hat sich von einer Gemeinschaft aus sechs Staaten zu einer Union mit 27 Mitgliedern gewandelt, es wurde ein Binnenmarkt geschaffen, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit einer militärischen Komponente entwickelt, die Rechts- und Innenpolitik wurde in wichtigen Bereichen zusammengeführt, eine gemeinsame Währung entstand, es wurden Normen im Verbraucher- und Umweltschutz gesetzt, den Bürgern wurde die Freizügigkeit garantiert, eine EU-Staatsbürgerschaft wurde eingeführt. Die EU ist ein geachteter Partner in der Welt, sie leistet weltweit 50 Prozent der gesamten Entwicklungshilfe, die Leistungen der EU-Staaten machen 37 Prozent des Budgets der Vereinten Nationen aus und 50 Prozent aller sonstigen Zahlungen an die UNO (Stratenschulte, S. 38/39)
Angesichts dieser positiven Bilanz und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die EU ihre ursprüngliche Aufgabe offensichtlich bestens erfüllt hat, stellt sich nun natürlich die Frage, welches die zukünftigen Ziele der EU sein sollen und wie die endgültige Gestalt der Union aussehen soll. Wie bei zahlreichen internationalen Organisationen so muss das Ende des Ost-West-Konflikts auch innerhalb der EU zu einer Neuorientierung führen. Bislang hat die Union erstaunlicherweise auch ohne ein grundlegendes strategisches Konzept funktioniert. Mit dem Erreichen der grundlegenden Ziele und dem gleichzeitigen Wegfallen einer klaren äußeren Bedrohung wird das Fehlen einer strategischen Leitidee immer deutlicher und die allgemeine Orientierungslosigkeit in der Union führt vermehrt dazu, dass nationale Egoismen wieder mehr in den Vordergrund der Politik der Mitgliedstaaten zu rücken drohen. Der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld hat dieses Problem der Union treffend in der Feststellung zusammengefasst: „Die EU braucht eine Idee von sich selbst“ (in: Europa von A bis Z, S. 39).
In engem Zusammenhang mit dem strategischen Defizit der Union steht auch das Problem der fehlenden Identifikation der Bevölkerung mit der EU. Nur wenn klar ist, welche Gründe für die europäische Integration sprechen und welchem Ziel dieser Prozess dienen soll, wird es gelingen, die Bevölkerung dauerhaft für Europa zu begeistern. Die großen Defizite, die es in diesem Bereich noch gibt, haben sich bei den Diskussionen um die europäische Verfassung gezeigt. Europa muss in seinen Zielen wie in der Funktionsweise seiner Institutionen transparenter für die Bürger werden, nur dann kann sich langfristig so etwas wie eine europäische Identität entwickeln.
Eine weitere Frage, die in der EU zukünftig zu beantworten sein wird, ist die die nach den geographisch-politischen Grenzen der Union. Noch ist die Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten kaum verkraftet, da klopfen bereits neue Kandidaten an die Türen der EU. Allen voran die Türkei und Kroatien, mit denen die EU derzeit über eine zukünftige Mitgliedschaft verhandelt. Die Republik Makedonien hat ebenfalls den Status eines Kandidaten, Verhandlungen werden jedoch noch nicht geführt. Der ER hat zudem 2003 in Thessaloniki eine prinzipielle Beitrittszusage gegenüber den Staaten des Westbalkan ausgesprochen. Des weiteren möchten auch die Ukraine, die Republik Moldau sowie die kaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan Mitglieder der Union werden. Je weiter der Kreis derer wird, die sich der EU anschließen wollen, desto dringender muss die Union an ihrem Selbstverständnis arbeiten. Nur wenn deutlich formuliert wird, welches die zentralen Ziele der Union sind, für welche Werte sie einsteht und welches die grundlegenden Voraussetzungen für einen Beitritt sind, kann vermieden werden, dass die EU irgendwann zu einem beliebigen „Club“ von Staaten wird, die nichts weiter zusammenhält als die Hoffnung ihrer Mitglieder, dass es ihnen mit dieser „Clubmitgliedschaft“ wirtschaftlich besser gehen wird, als ohne. Perspektivisch wird angesichts der Vielzahl der Kandidaten auch über neue Formen der Mitgliedschaft nachzudenken sein, die nicht für alle Mitglieder der EU die gleichen Rechte und Pflichten beinhalten (Stichwort: gestufte Mitgliedschaft).
Eine stetige Herausforderung mit der die Union seit der ersten Erweiterungsrunde zu kämpfen hat ist das Problem der Reform der Entscheidungsmechanismen. Heute hat die EU 27 Mitgliedstaaten, zahlreiche Entscheidungsstrukturen stammen jedoch noch aus einer Zeit, als die Gemeinschaft nur sechs Mitglieder hatte. Langwierige, schwerfällige und nicht zuletzt für den Bürger kaum transparente Entscheidungen waren die Folge, dringend notwendige Reformen wurden mit Blick auf nationale Interessen von einzelnen Staaten immer wieder blockiert. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Dezember 2009 wurden auch die Entscheidungsmechanismen der EU verändert. Somit besteht die Chance, dass sich an diesem Problem zukünftig etwas ändern wird und die Handlungsfähigkeit der Union angesichts der kommenden Herausforderungen wächst. Langfristig wird es mit einer so großen Gemeinschaft jedoch nicht in allen Bereichen möglich sein, die Integration in gleichem Tempo voran zu treiben.“ Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist keine anzustrebende Lösung, wird auch dem nicht gerecht, was der Kontinent insgesamt bewirken kann, wenn alle zusammen nach vorne marschieren. Aber das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist der logische Ausweg aus den Sackgassen, in die das Verliebt-sein einzelner Staaten in sich selbst auf Kosten der anderen uns immer wieder führen wird“, so die Erkenntnis des luxemburgischen Premiers Jean-Claude Juncker nach den schwierigen Verhandlungen des Europäischen Rates in Brüssel im Juni 2007.