Wir wollen alles sehen

Auch für Insider überraschend war der Fund von 300 Filmen eines fast unbekannten Filmstudios der DDR. Die Dokumentarfilme der Staatlichen Filmdokumentation (SFD) sollten nachfolgenden Generationen einen unverstellten Blick auf das sozialistische Leben in den 1970er und -80er Jahren ermöglichen. Der Dokumentarfilm „Der heimliche Blick - Wie die DDR sich selbst beobachtete“ erzählt die Geschichte der SFD. Vorpremiere war am 23. Februar 2015 in der SLpB.

Dr. Anne Barnert hat einen tollen Job, sie schaut Filme. Das besondere Interesse der Kulturwissenschaftlerin vom Institut für Zeitgeschichte Berlin gilt Sperr-Filmen aus der DDR, Filme die mehr über das Land erzählten, als den Machthabern lieb war. Bei ihrer Forschung stieß sie auf Material vom SFD. SFD steht für Staatlichen Filmdokumentation, ein kleines, fast unbekanntes Filmstudio in Ost-Berlin.

Vom Klassenfeind geschrieben?

Zuerst fand Barnert Drehbücher: „Ich las sie und dachte, die hat der Klassenfeind geschrieben.“ Von Propaganda keine Spur, kein Hohelied auf die Arbeiterklasse und die Übererfüllung von 5-Jahres-Plänen. Ungeschönt wurde die DDR-Wirklichkeit mit Versorgungsengpässen, maroden Wohnungen und zerfallenden Industrieanlagen gezeigt.

Auch politische Maßnahmen werden erstaunlich offen dokumentiert. So beschreibt Karl Mewis in einem der ersten SFD-Filme die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in seiner Mecklenburgischen Heimat. Mewis war als erster Sekretär der SED-Landesleitung Mecklenburg, später Bezirksleitung Rostock für die Enteignung der Bauern zuständig. Vor laufender Kamera bekennt er, dass ideologische Argumente bei den Bauern nicht fruchteten. Mewis schildert, wie man Dörfer umstellte, agitierte und moralischen Druck aufbaute bis die Bauern aufgaben.

Für die Zukunft gedreht

Die üblichen Propaganda-Regeln und ideologischen Prüfungen galten für die SFD nicht. Ihre Filme bekamen nur wenige zu sehen, sie waren für spätere Generationen bestimmt. Diese sollten nach vollbrachtem kommunistischem Aufbauwerk einen unverstellten Blick auf das realsozialistische Leben in den 1970er und -80er Jahren und die überwundenen Probleme erhalten.

Dieses Vorhaben misslang. Zum einen nahm die Zukunft einen anderen Lauf, zum anderen war das Filmmaterial nicht besonders dauerhaft. Die meisten der inzwischen gefundenen 300 Filme bröseln, nicht nur an den Klebestellen. Trotz fachgerechter Lagerung bei 12 Grad und Dunkelheit müssen die Filme restauriert werden.

Erstaunliche Freiheit

Dass dies lohnt, zeigt der Film „Der heimliche Blick - Wie die DDR sich selbst beobachtete“. Thomas Eichberg und Holger Metzner erzählen die Geschichte des Filmfundes. Sie spüren der SFD nach, sprechen mit den Akteuren und berichten über den Arbeitsalltag. Die Staatliche Filmdokumentation hatte ein paar Büros unter dem Dach am Rosenthaler Platz in Berlin. Partei und Ministerien schienen weit weg und man bestimmte die eigenen Projekte selbst. Diese erstaunliche Freiheit fand Grenzen in der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft. Das Filmmaterial war knapp, das schmale Benzindeputat verhinderte längere Fahrten. So entstanden die meisten Dokumentationen im direkten Umfeld am Prenzlauer Berg.    

In die Dachwohnung des Rentnerpaares regnet es seit zwanzig Jahren. Die zuständige Wohnungsgesellschaft bekennt katastrophale Zustände. Volkspolizisten lassen sich im Revier filmen oder erklären die Zusammenarbeit mit aufmerksamen Bürgern im Grenzgebiet. Selbst die Grenzanlagen kommen detailliert auf den Film. Inmitten runtergewirtschafteter Industrieanlagen berichten Arbeiter von unhaltbaren Arbeitsbedingungen. Aussteiger und Friedensaktivisten erklären sich vor laufender Kamera. Martina Liebnitz, damals SFD-Redakteurin: „Die Leute sprachen offen, weil wir nicht von der Aktuellen Kamera (Hauptnachrichtensendung im DDR-Fernsehen) kamen.“

Diese Filme sind unser Gedächtnis

Diese Aufnahmen sind einmalig, sie zeigen die DDR aus einer ungewohnten, fast unzensierten Perspektive. Fast unzensiert, denn manch Filmemacher hatten die Schere schon im Kopf. Barnert „In jedem Filmen wurde getestet, was politisch möglich war. Zum Selbstschutz wurde auch gelöscht.“

Trotzdem ist der Wert der SFD-Filme nicht hoch genug einzuschätzen. Heute können die SFD-Bilder wichtige Lücken in unserer Erinnerung an die DDR füllen. „Diese Filme sind unser Gedächtnis.“ Sagt Prof. Dr. Dieter Wiedemann, ehemaliger Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ bei der Vorpremiere am 23. Februar in der Sächsischen Landeszentale für politische Bildung. Wiedemann plädiert für die Restaurierung und Digitalisierung des Filmschatzes zum Einsatz im Unterricht. Und er wünscht sich „Teil 2 und Teil 3 dieser Filme“. Die Besucher der Vorpremiere gingen noch weiter, sie forderten: „Wir wollen alles sehen.“

TV-Ausstrahlung am 17. März 2015, 22:45 Uhr im RBB