Wie wäre es mit einem "Marshallplan" für die Flüchtlingsintegration?

Nach dem Zweiten Weltkrieg half der amerikanische Marshallplan beim wirtschaftlichen Wiederaufbau des zerstörten Westeuropa. Heute steht die Gesellschaft wieder vor einer riesigen Herausforderung. Die Integration von Tausenden von Flüchtlingen kann nur mit Offenheit, Transparenz und parteiübergreifender Kooperation funktionieren. Der ehemalige sächsische Ausländerbeauftrage Martin Gillo regt einen neuen Marshallplan zur Flüchtlingsintegration an.

Es waren einmal eine Schwester und ein Bruder, er eingefleischter Optimist, sie definitiv pessimistisch doch gutherzig. Bei ihren Besuchen prallten deshalb ihre unterschiedlichen Sichtweisen oft aufeinander. Wenn sie ein gesellschaftliches Thema mit pessimistischer Sichtweise ansprach, antwortete der Bruder unweigerlich mit optimistischen Gegenargumenten, um das negative Bild wieder zurechtrücken. Kam es zum Einvernehmen? Weit gefehlt! Beide konnten sich mit ihren gegensätzlichen Argumenten so hochsteigern, dass er zum Traumtänzer wurde, während sie ein Ende mit Schrecken vorhersagte. Beide waren damit gleich weit von der Realität entfernt.

Ähnlich scheint es mit der öffentlichen Diskussion über die Flüchtlingsströme nach Deutschland und Europa zu stehen: Auf der einen Seite Traumtänzer, die wortwörtlich die ganze Welt bei uns willkommen heißen wollen. Auf der anderen Seite mahnen die Boten der Apokalypse vor dem Untergang unserer deutschen Gesellschaft. Zur Verteidigung ihrer gegensätzlichen Position benutzen beide natürlich auch Argumente, die sachlich richtig sind. Der öffentliche Diskurs ist mittlerweile in der gegenseitigen Diffamierung angekommen. Und jeder versucht, den Tenor des öffentlichen Dialogs auf seine Seite zu ziehen. Die eine Seite tabuisiert ihre echten und vermeintlichen Gegner mit Political Correctness und öffentlicher Häme über die Medien. Die andere Seite macht sich Luft durch öffentliche Proteste. Beide Seiten nutzen das Internet, um die jeweiligen Anderen mit verbalem Unrat zu überschütten. Die Mitte der Bevölkerung hält sich verängstigt zurück.

Dabei sind mittlerweile die vielen realen Herausforderungen bei der Unterbringung von Asylsuchenden für unsere Gesellschaft so groß wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Vergessen wir die für 2015 vorhergesagten 300.000, 450.000 oder auch die 800.000 Asylsuchenden. Sprechen wir eher von 2 Millionen Menschen, die zu uns kommen werden. Die Türkei sagt uns derweil voraus, dass in Kürze 8 Millionen Syrer auf dem Weg zu uns unterwegs
sein werden.

Ist es nicht Zeit für Stimmen der Vernunft, die uns aufzeigen, wie wir mit dieser neuen Aufgabe umgehen können? In diesem Geiste schlage ich einen Acht-Punkte Marshall-Plan für unsere Gesellschaft vor, der getragen ist von Offenheit, Transparenz und parteiübergreifender Kooperation.

Was könnten die Ziele dieses Plans sein?

  •  Integration der Asylsuchenden vom Anfang bis zu ihrem Abschied.
  •  Akkulturation zu den Werten unseres Grundgesetzes und den UN Menschenrechten.
  • Deutsch für Alle.
  • Umsetzung der universalen Schulpflicht und Bildungsangebote bis zum 27. Lebensjahr inkl. Alphabetisierung.

Und so könnte ein Marshallplan aussehen:

  1. Transparenz über die Kosten für Flüchtlinge für die Gesellschaft. Geschätzt sind es etwa 10T€ pro Person und Jahr für Wohnen, Essen, Gesundheit und Taschengeld.
  2. Wir brauchen viele neue Gebäude für Asylbewerberheime, Asylbewerberwohnungen, Kitas für alle, Schulen und Bildungseinrichtungen.
  3. Wir brauchen neue Gesetze für schnellere Verfahren, von Entscheidungen über Asylanträge und die nachgeordneten Verwaltungsgerichtsverfahren bis hin zu schnelleren Baugenehmigungen (wie wir sie nach der Wiedervereinigung für Straßenbauten im Osten hatten).
  4. Wir brauchen flexiblere Gesetze für die Qualifizierung der benötigten Fachkräfte, als Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter. Warum z.B. nicht auch Lehrer einstellen, die „nur“ als Deutschlehrer qualifiziert sind?
  5. Eine nationale Kommission für die erfolgreiche Integration von Asylsuchenden. Hinschauen stellt sicher, dass wir nicht nur Sonntagsreden halten.
  6. Behördliche Koordination und professionelle Begleitung von ehrenamtlichen Helfern.
  7. Regelmäßige Dialogrunden zwischen Politik und Bevölkerung über weitere Entwicklungen beim Thema.
  8. Europäische und deutsche Anreize für robustes Wirtschaftswachstum, umso mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wir brauchen mehr echte Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, und deshalb wirtschaftliches Wachstum.

Was fehlt? Ich habe es mir mit diesem Plan zu leicht gemacht; denn ich habe das schwerste Thema ausgeblendet: Wie viele Menschen dürfen illegal über die Grenze? Wer darf hier bleiben? Wie führen wir diejenigen zurück, die vollziehbar ausreisepflichtig sind? Das ist ein wenig wie bei einem Schiffsunglück: Es passt nur eine begrenzte Zahl von Schiffsbrüchigen in ein Rettungsboot. Werden zu viele aufgenommen, dann sinkt das Boot und alle kommen um.

Wie viele Flüchtlinge passen nach Europa, nach Deutschland? Dies ist wohl das schwerste menschliche und politische Thema überhaupt. Bisher behandelten es Politiker im Schatten der Nicht-Öffentlichkeit. Solche Zeiten sind vorbei. Hier und heute gehört dieses Thema in den öffentlichen Dialog. Das wäre gelebte Zivilgesellschaft. Wie wäre es mit einer Ethik-Kommission für die Beantwortung dieser Frage? Angie vor, noch ein Tor!