Wann emanzipiert sich der Osten?

Eine knappe Woche vor der Preview von „Wer beherrscht den Osten?“ in der Schauburg in Dresden am 30. Mai konnten Zuschauer im vogtländischen Plauen sehen und hören - bewiesen mit Zahlen, Fakten und Interviews - wer den Osten Deutschlands beherrscht. Die Antwort hatte man geahnt oder am eigenen Leib in mehr als 25 Jahren erfahren. Dennoch, massenhaftes Unruhestiften und laute Unmutsbezeugungen blieben aus. Diskutiert wurde in Plauen vielmehr differenziert und sogar mit Abstand. Die Besetzung der Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik, Justiz und Verwaltung, Militär und Medien nach der Wende mit Westdeutschen (heute liegt die Quote noch immer bei 77 Prozent) hat offenbar viele Gesichter.

Der 45minütige Film von Hoferichter&Jacobs basiert auf einer im Auftrag des MDR erstellten Studie der Universität Leipzig und erzählt und lässt erzählen, wie seit 1990 Westdeutsche die Schaltstellen der Macht und des Einflusses besetzen. Und wie sich Wahlverhalten und das Verhältnis der Bürger zu Parteien und Politik gewandelt haben. Ostdeutschland als Katalysator was allgemeine Probleme angeht, als der Teil Deutschlands, in dem sie sich eher zeigen als im Westen, wie es Filmemacher Olaf Jacobs in der anschließenden Diskussion in den Raum stellte? Der Neoliberalismus, so Frank Richter, überziehe nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft. Erfassen Ostdeutsche das Unbehagen eher als Westdeutsche?

„Es gab keine ostdeutsche Mentalität“

Im Film selbst kommen neben engagierten und frustrierten Plauener Bürgern, stellvertretend und typisch auch für andere Regionen, vier weitere Männer zu Wort, die ihre jeweils eigenen Erfahrungen berichten: Johannes Beermann, West-Karrierebeamter, einst Chef der sächsischen Staatskanzlei unter Tillich, Bodo Ramelow, (westdeutscher) linker Ministerpräsident von Thüringen, Jan-Hendrik Olbertz, Ost-Wissenschafter und bis vor kurzem Rektor der Humboldt-Universität Berlin und Sergej Lochthofen, langjähriger früherer Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen Zeitung. Unterschiedliche Personen mit unterschiedlicher Herkunft, beruflicher Geschichte und Blickwinkel. Markig etwa die Aussage von Johannes Beermann, es habe keine ostdeutsche Mentalität gegeben, nur eine sozialistische.

Es entsteht ein Bild westdeutschen Minister- Staatssekretärs-, Wissenschaftsriegen im Osten, von westdeutsche Medienkonzerne, die Zeitungskonzentration- und sterben (auch) im Osten verantworten, von Unzufriedenheit der Bürger mit den etablierten Parteien, von dem Gefühl unter einer westdeutschen „Fremdherrschaft“ zu leben, die per se unwissend ist, was die ostdeutsche Mentalität angeht. All das gestützt von eindeutigen Statistiken.

„Sternstunde der politischen Bildung“

Was tun mit einem solchen Film, den der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Frank Richter, als eine „Sternstunde der politischen Bildung“ bezeichnete? Obgleich er die Fragestellung im Titel für nicht korrekt hält: „Beherrschen ist das falsche Wort in einer Demokratie – es ist geliehene Macht auf Zeit.“ Zwei Aspekte kristallisierten sich im Plauener Podiumsgespräch heraus, das Frank Richter neben Filmemacher Olaf Jacobs mit dem früheren Dresdner Oberbürgermeister Herbert Wagner und dem Historiker Justus Ulbricht führte, moderiert von Friederike Ursprung.

Zum einen ging es um die Chance, die das Thema des Films eröffnet, „offen und fair das anzusprechen, was uns bewegt“ (Frank Richter), die gegenseitigen Wunden zu benennen, aufzuarbeiten. Wie war das eigentlich damals, das, was mancherorts unterschwellig als feindliche Übernahme abgespeichert ist? Erinnerungen: „Die Dresdner wollten die Einheit, keine neue DDR“, erklärte Ex-OB Herbert Wagner. Man habe versucht, eine Verwaltung ohne Genossen aufzubauen. „Schmeißt alle roten Socken raus und bringt Dresden schnell auf West-Niveau“, sei seine Devise gewesen.

https://youtu.be/uP077rNcJwo

Personal im Osten „entsorgt“

Ja, man habe die Partnerstadt Hamburg um Unterstützung gebeten, man habe gern verwaltungserfahrene Leute, später auch aus Baden-Württemberg, genommen. Und: „Hätte es anders besser laufen können? Wir hätten andere Probleme gehabt. Transformationsprozesse sind mit Schmerzen verbunden.“ (Wozu auch die im Film thematisierten „Abwicklungsprozesse in vielen Bereichen“ gehörten, „die nicht nötig waren“ (Justus Ulbricht)). Aber auch: Der Reformstau in der alten Bundesrepublik sei im Osten abgebaut worden, baden-württembergisches Personal im Osten „entsorgt“ worden. Zu denken, dass Einheimische automatisch die bessere, Außenstehende automatisch die schlechtere Politik machten, sei falsch, sagte der Historiker Justus Ulbricht. Und Frank Richter zitierte den früheren Landtagspräsidenten Erich Illtgen: „Am besten wäre es, wenn wir für jeden Posten zwei Personen einstellen könnten: eine für das Wissen und eine für die Mentalität.“     

Beitritt war Beschluss der Volkskammer

Meinungen auch aus dem Publikum: Der Dresdner Pfarrer Christian Mendt erinnerte daran, dass es 1990 schwierig gewesen sei, in den eigenen Reihen Menschen zu finden, die bereit waren Verantwortung zu übernehmen. Eine andere Stimme wehrte sich gegen das Denken in den Kategorien von Ost und West,  und es seien „viele gute Leute“ aus dem Westen dabei gewesen. Dennoch, im Jahr 2016, befand der Filmemacher Olaf Jacobs, sei deutlich zu spüren, dass die Einheit durch Beitritt zum Geltungsbereich der Bundesrepublik zustande gekommen sei, was wiederum, wie der Direktor der Landeszentrale klarstellte, die gewählte Volkskammer der DDR beschlossen habe.

Weichen für die Zukunft stellen

Auseinandersetzung mit Personalentscheidungen und Prozessen der Wendezeit, die bis heute massiv nachwirken auf der einen Seite wurde in Plauen diskutiert, der Blick in die Zukunft als notwendige Antwort andererseits.    

„Wir müssen den Mut haben, die Bilder, die wir gegenseitig voneinander haben, loszulassen“ (Justus Ulbricht). Das gesamt Land sei gefordert, man müsse fragen, ob wir eine gemeinsame Leitkultur entwickeln wollen. Nicht die Opfermentalität sei zu bestärken, sondern vielmehr müssten Weichen für die Zukunft gestellt werden. Man müsse dafür sorgen, dass die jungen, talentierten Leute nicht abwanderten. Frank Richter hofft, dass der Film einen Lernprozess in Gang setzt. Wer beherrscht den Osten?“ stelle eine einfache Frage, doch die Antworten auf einfache Fragen seien oft schwierig. Er widersprach den landläufigen Urteilen etwa über eine Parteiendiktatur („keine Parteiendiktatur, auch wenn eine Parteiendominanz“, Parteien wirkten laut Grundgesetz mit an der Meinungsbildung und seien Organisationen, die sich viel zumuteten,  „lassen Sie uns die Parteien nicht schlecht machen“), mangelnde Mitsprachemöglichkeiten der Bevölkerung („das stimmt nicht“, es gebe viele Möglichkeiten, aber „es ist eben kompliziert, sie wahrzunehmen“) oder über den Frust, der sich in einer niedrigen Wahlbeteiligung niederschlage (daraus lasse sich nicht folgern „dass die Leute nicht mit der Ordnung zufrieden sind.“).

„Wenn der Film erreicht“, so Richter „dass sich der Osten emanzipiert, dann ist es gut“.

Damit sind dem Film viele Zuschauer zu wünschen: zur Vorpremiere mit Diskussion in Dresden am 30.Mai., zur Ausstrahlung des ersten Teils im MDR am 31.Mai und des zweiten Teils am 6. Juni.