Von Estland lernen - Digitalisierung mit Ermutigungsfaktor

In Sachen Bürgerdienste ist das Baltenland führend. Das zieht Besucher aus vielen Ländern an.

Deutsche Delegationen, die nach Estland reisen, um sich in der Welt des digitalen Fortschritts umzusehen, kommen von der Zahl der Besuche her auf Platz zwei nach Japan, berichtet Florian Markus vom e-Estonia Informationszentrum in Tallin. Dort können sich Entscheidungsträger, Führungskräfte, Investoren und internationale Medien von der Erfolgsgeschichte der estnischen Digitalisierung inspirieren lassen und Verbindungen zu führenden IT-Dienstleistern aufbauen. Im Oktober weilte im Rahmen einer netzpolitischen Studienreise deshalb auch eine Gruppe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) in Tallin.

Dabei wurde hier zur Erklärung der Erfolgsgeschichte durchaus auf einige Jahrzehnte zurück verwiesen. In Estland bestand schon seit der Sowjetzeit ein Institut für Kybernetik aus dem später jene Firma hervorging, die die X-Road aufbaute: ein dezentrales System, das den Austausch verschiedener Datenbanken regelt und damit die Grundlage bietet für Bürgerdienste in praktisch jedem Lebensbereich. Sie ermöglicht einen verschlüsselten Datenaustausch zwischen Datenbanken mit der flexiblen Möglichkeit neue Komponenten zu entwickeln, hinzuzufügen oder auszutauschen. Alles, was der Nutzer dafür braucht, ist ein Kartenleser, der an das Notebook oder den PC angeschlossen wird. „Alle Datenbanken verschmelzen zu einem Netzwerk“, erklärt Mark Erlich von der Information System Authority in Tallin. Außerdem habe Estland als kleines flaches Land gute technische Voraussetzungen, keine teuren Erdverlegungen von Glasfaser also. Estland könnte sich ohnehin keinen teuren Staatsapparat leisten, 99 Prozent des staatlichen Dienstleistungsangebots sind also online. Nach Meinung des Experten ist Digitalisierung etwas für arme und Länder mit geringer Bevölkerungsdichte und es gibt noch den geografischen Konfliktfall Estland: die Angst vor einer neuen Invasion durch Russland sitzt tief. Eine digitale Welt aber kann ohne staatliches Territorium existieren.

3500 Deutsche haben eine e-Residenz. Angela Merkel auch.

Möglich ist die konsequente digitale Ausrichtung Estlands wahrscheinlich zuerst durch Mut und Vertrauen in die Regierung und IT-Sicherheit. Den Zauberstab beim estnischen Digitalwunder stellt die ID-Card. Jeder volljährige Bürger Estlands besitzt so eine ID-Chipkarte, mit der fast alle Behördengänge vom PC aus erledigt werden können. Sie ist Führerschein, Bibliotheksausweis, Steuernummer und Gesundheitskarte in einem. Das Strafregister kann eingesehen werden, gewählt wird mit der ID-Card und man registriert Neugeborene und beantragt damit automatisch auch gleich das Kindergeld. Nur wenn die Esten heiraten, sich scheiden lassen, Grundstücke verkaufen oder ihre ID zum ersten Mal abholen wollen, müssen sie persönlich beim Amt erscheinen. Von dieser digitalen Identität leitet sich auch das Zahlen der Steuerflat von 20 Prozent einheitlich ab.

Möglich ist weiter eine digitale Staatsbürgerschaft, genannt e-Residenz Sie soll vor allem ausländische Niederlassungen anziehen und außerdem können Jahresabschlüsse und andere Dokumente digital eingereicht werden. Eine volle Staatsbürgerschaft mit allen Rechten eines EU-Bürgers ist das nicht, informiert Katrin Vaga vom estnischen e-Residenz Programm. Angela Merkel hat eine elektronische Staatsbürgerschaft so wie weitere 3500 e-Residents aus Deutschland ebenfalls, freut sie sich.

Deutschland und Estland - digitale Pfade sind verschieden

Die deutschen Delegationen, die sich das digitale Wunder-Estland anschauen, kehren begeistert zurück, um sich kurze Zeit später mit den deutschen Bedenken konfrontiert zu sehen. Robert Krimmer, Professor für e-Governance an der Universität Tallin, nennt dafür die wichtigsten Gründe. Die Esten hätten vor 30 Jahren praktisch bei null angefangen. Ein Grundbuchamt gab es zum Beispiel nicht, also wurde das gleich digital gemacht ohne verwaltungstechnische Zwischenschritte wie in Deutschland. Solchen Ansätzen ständen in Deutschland auch der über Jahrzehnte gewachsene Föderalismus sowie der Datenschutz entgegen. Außerdem sei die Digitalisierung in Estland ein politischer top-down Prozess gewesen. Junge und dynamische Politiker hätten die Schritte rund um die digitale Identität entschieden, ohne Verwaltungshindernisse und auch ohne mögliche Bedenkenträger aus der Zivilgesellschaft und dem juristischen Bereich. Vermutlich hängt dies wieder mit der Mentalität der Esten und der Beschaffenheit Estlands zusammen. Viele der nur 1,3 Millionen Einwohner des Landes sind auch im realen Leben über Ecken miteinander vernetzt. Ein Drittel der Esten lebt in der Hauptstadt Tallinn. Sie bilden vielleicht so etwas wie eine vertraute Gemeinschaft. Funktioniert hat das allerdings bisher nicht bei den Versuchen eine staatliche virtuelle Währung - den Estcoin – zu schaffen. Das Problem ist, dass die offizielle Währung des Landes der Euro ist und die Mitgliedschaft in der Eurozone kein anderes - auch keine Kryptowährung - paralleles Zahlungsmittel zulässt. Estland mit einer geringen Kapital- und Investitionsquote bei den Unternehmen sei eben auch nicht das Industrieland Deutschland, so Krimmer. In Deutschland braucht eine starke Industrie 4.0 Breitbandkabel, diese hohen Übertragungsraten haben in der estnischen Netzpolitik keine Priorität. Außerdem, so der Österreicher, sei digital eben auch das Branding für Estland, so wie Mozart eben für Wien.