Vom Recht auf eine eigene polnische Asylpolitik

Der Abschluss der Veranstaltungsreihe zu 70 Jahren Grundgesetz befasst sich weniger mit deutschen Flüchtlingsproblemen als mit dem östlichen Nachbarn.

Passender konnte der Zeitpunkt der gemeinsamen Diskussion von Landeszentrale und Katholischer Akademie zum Asylrecht nicht gewählt sein. Am folgenden Tag, dem 7. Juni, stand in Berlin der so genannte Integrationsgipfel der Bundesregierung auf der Tagesordnung. Es ging um Sanktionen und konsequentere Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber einerseits, um erleichterten Zuzug von Fachkräften andererseits. Der Veranstaltungstitel zitierte schlicht den vielfach geänderten Artikel 16a des Grundgesetzes: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Die Diskussion im Haus an der Kathedrale bildete ja auch den Abschluss einer Veranstaltungsreihe zum 70. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes.

„Ich weiß, dass ich hier am Pranger stehe.“

Doch der unerwartet geringe Zuspruch von nur etwa 30 Gästen signalisierte schon, was der Politikwissenschaftler Hans Vorländer zum Einstieg referierte: Das Asylthema hat deutlich an Brisanz verloren. Die zweite Überraschung bot der Gesprächsverlauf. Unter der Moderation der Journalistin Canan Topcu ging es nicht um die am Folgetag in Berlin zu verhandelnden Themen wie ein Arbeitsverbot für Asylbewerber, die ihre Identität verschleiern, das Polizeirecht zum Betreten von Wohnungen der Abschiebekandidaten oder die „Beschäftigungsduldung“ von Altfällen vor August 2018. Die Anwesenheit von Dr. Bartlomiej Wróblewski, Mitglied der regierenden PiS-Partei und Vorsitzender des Deutsch-Polnischen Ausschusses im polnischen Sejm, zog die Diskussion magnetisch in die Richtung einer Auseinandersetzung mit der Flüchtlingspolitik Polens und anderer europäischer Länder. Alle waren um Respekt und Höflichkeit bemüht und konnten doch die Bemerkung Wróblewskis nicht verhindern: „Ich weiß, dass ich hier am Pranger stehe.“

Erhellende Sicht auf Fakten

Die Gelassenheit, mit der die Einführung von Professor Vorländer akzeptiert wurde, ließ auf die Zusammensetzung des Auditoriums schließen. Denn ein größerer Gegensatz zu der von rechts geschürten Hysterie, zu den täglich eingehenden Pressemitteilungen über die apokalyptische Bedrohung des deutschen Vaterlandes durch Migranten ist nicht vorstellbar. „Von den großen Befürchtungen ist wenig übrig geblieben“, brachte es Vorländer gleich eingangs auf den Punkt. Kein Widerspruch in der späteren Diskussion.

Vorländers Einschätzung der Entwicklung nach 2015 klang verblüffend optimistisch. Die Kommunen hätten die Flüchtlingsaufnahme rasch und sehr pragmatisch organisiert, auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge arbeite jetzt zügiger. Bei Spracherwerb und Bildung oder sogar bei der Beschäftigung sei einiges erreicht worden, wenn jeder dritte Asylbewerber bereits einen sozialversicherungspflichtigen Job gefunden habe. Deren Kriminalitätsneigung werde öffentlich heißer diskutiert als sie von der Bevölkerung konkret wahrgenommen wird. Hans Vorländer konstatierte sogar für ganz Europa eine in den vergangenen drei Jahren gewachsene positivere Einstellung gegenüber Flüchtlingen, nahm aber Polen, Tschechien und Ungarn von diesem Trend aus.

Welcome to hell

Roland Bank als deutschem Vertreter des UN-Flüchtlingsrates UNHCR war es zu danken, dass die derzeit wieder durch die Nachrichten ziehenden Weltflüchtlingszahlen anschaulicher differenziert wurden. Bis zu 70 Millionen sollen es sein, überwiegend aber Binnenflüchtlinge innerhalb des eigenen Landes. Allein fünf Millionen vertriebene Palästinenser leben in den umliegenden Staaten. Etwa 20 Millionen Menschen auf der Erde verlassen ihre Heimat, der größte Teil von ihnen floh vor dem syrischen Krieg. Der Libanon nimmt in Relation zur eigenen Einwohnerzahl weltweit den größten Anteil an Flüchtlingen auf. Die meisten Flüchtlinge leben entgegen dem durch Medienberichte entstehenden Bild aber nicht in Lagern, auch nicht im Libanon, überraschte Bonk.

Ergänzt wurde dieser informative Eingangsteil durch Alexander Kalbarczyk als Vertreter der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Er gab frische Eindrücke von einer Reise nach Äthiopien wieder, ein Land, über dessen Migrationsprobleme hierzulande kaum einer spricht. Zu den 3,2 Millionen Binnenflüchtlingen, die vor Klimafolgen, schwindenden Ressourcen und ethnischen Konflikten fliehen, kommen noch eine Million auswärtige Flüchtlinge hinzu. Mit „Welcome to hell“ beschrieb Kalbarczyk die Zustände dort. Krankheiten wie HIV oder Malaria grassierten. „Es ist beschämend, wie viel Gutes von Helfern geleistet wird“, mahnte er und fordert dazu auf, „unseren verwöhnten Kindern davon zu erzählen“.

Zwei Millionen Migranten in Polen

Solche mahnenden Sätze im christlichen Geist erwiesen sich nicht als eine passende Überleitung zum Statement des polnischen Vertreters. Bartolomiej Wróblewski fand auch im Gesprächsverlauf wenig Billigung bei seinen Podiumspartnern, konnte aber mehr Verständnis für die polnische Flüchtlingspolitik wecken und hierzulande wenig geläufige Informationen vermitteln. „Das Polen-Bild in Deutschland ist schlecht“, räumte der Politiker ein, der selbst lange in Deutschland gelebt hat. Aber es beruhe auch auf Missverständnissen.

Die Bevölkerung auf dem Gebiet des lange geteilten und beherrschten Polen sei über Jahrhunderte sehr heterogen zusammengesetzt gewesen. Erst seit dem zweiten Weltkrieg bestehe sie zu 95 Prozent aus katholischen Polen. Nur 5 Prozent sind Weißrussen, Ukrainer und Deutsche. Entsprechend gering sind die Erfahrungen mit Ausländern. Erst in den vergangenen 5-8 Jahren habe sich demografisch einiges bewegt. „Plötzlich haben wir etwa zwei Millionen Migranten, meist aus der Ukraine“, sagte Wróblewski. Er erwarte noch mehr Arbeitsmigranten. Zwischen ihnen und den Polen gebe es kaum Spannungen. Etwa ebenso viele Polen sind in EU-Länder ausgewandert. Wróblewski betonte, auch Polen habe ein Asylrecht, allerdings lege man es strenger als die deutschen Nachbarn aus, denn die Integration hunderttausender Flüchtlinge in europäische Länder müsse scheitern. Im Prinzip teile eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten ähnliche Auffassungen. Die EU solle vielmehr für Afrika einen ähnlichen Hilfsfonds wie den amerikanischen Marshall-Plan nach dem Zweiten Weltkrieg auflegen.

Polnische Asylpolitik in der Kritik

Über den polnischen Eigensinn in der EU entspann sich dann eine kultivierte Kontroverse. Mit dem Satz „Polen nimmt Geld, aber keine Flüchtlinge“ hatte sie Moderatorin Canan Topcu selbst ausgelöst. „Man soll nicht mehr verlangen als vereinbart“, entgegnete Wróblewski. Auch Deutschland profitiere von der Osterweiterung der EU. „Aus ihr erwachsen aber auch Pflichten“, erinnerte Hans Vorländer beispielsweise an die Dublin-Abkommen zur Flüchtlingsverteilung. Zugleich räumte er ein, dass der europäische Westen die Befindlichkeiten der Ost- und Südosteuropäer nicht ausreichend wahrnehme.

Zu denen gehöre auch, dass das deutsche Willkommensverhalten 2015 gegenüber Asylsuchenden in Polen Ängste ausgelöst habe, gestand Alexander Kalbarczyk von der Deutschen Bischofskonferenz ebenfalls zu. Er schilderte aber auch den gescheiterten Versuch der polnischen Bischofskonferenz, einen Korridor für 500 besonders bedrohte Flüchtlinge zu schaffen. Die Regierung habe dies wegen angeblicher Terrorismusgefahr abgelehnt. Und er verwies darauf, dass ausgerechnet das katholische Polen den Aufforderungen des Papstes zu mehr Barmherzigkeit gar nicht entspreche. Das seien keine Dokumente der Katholischen Kirche, erwiderte Bartolomiej Wróblewski ungeachtet vieler vatikanischer Texte zu Flucht und Migration. „Die Bevölkerung will das nicht“, fasste er sich kurz.

Schutzsuchende strebten deswegen auch kaum nach Polen, pflichtete ihm Roland Blank vom UNHCR fast schon bei. Eine Quotenregelung würde deshalb auch kaum funktionieren. Die durchaus eloquenten Versuche, den Papst gegen die Polen auszuspielen, erschöpften sich allmählich und mündeten schließlich in eine für Deutsche wie für Polen geltende Negativ-Kompromissformel: „Migration bedeutet den Stellvertreterkrieg für eine offene oder geschlossene nationale Gesellschaft“, bot Alexander Kalbarczyk an.

Angst vor dem Islam kein Thema

Erstaunlicherweise spielte die vermeintliche kulturelle Bedrohung durch den Islam überhaupt keine Rolle und wurde auch nach der Diskussionsöffnung ins Publikum nicht angesprochen. Selbstkritisch klang vielmehr die Rolle Europas als Fluchtverursacher durch die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents an. Aber auch eine ehemalige Flüchtlingshelferin kam zu Wort, die eigene Erfahrungen skeptisch gestimmt haben. „Wir müssen herkommen, weil ihr keine Kinder mehr bekommt und Arbeitskräfte fehlen“, meinten einige Ankömmlinge. Wer streue in den Herkunftsländern solche Meinungen? Außerdem sei Antisemitismus unter Syrern weit verbreitet, sagte sie.

Im Podium versöhnte man sich schließlich mit allgemein gültigen Feststellungen. Migration sei ein „menschheitsgeschichtliches Phänomen“, das nicht aufhöre. Die klassische Entwicklungshilfe für Problemländer werde daran wenig ändern. Zuerst müsse unsere humanitäre Verpflichtung gesehen werden und dann erst der Eigennutz, kam erwartungsgemäß von katholischer Seite. Und ebenso erwartungsgemäß betonte der polnische Vertreter den nationalen Eigensinn. Man solle anderen nicht seine Version der Welt aufzwingen, auch Flüchtlingsfragen seien nicht nach einem Muster zu lösen.

Der Autor Michael Bartsch ist freiberuflicher Journalist und Autor, u.a. für die taz und den MDR-Hörfunk