Regierungsbildung nach Wahlen – Wie ist das mit dem „Willen des Volkes“? (2)

Konkurrenz, Streit, Einigkeit, Kompromiss, Kontinuität - in unserem politischen System sind unterschiedliche Ansätze vereint. Wie funktioniert der „Willen des Volkes“ in einer pluralistischen Gesellschaft und wie finden Mehrheiten und Minderheiten gleichermaßen Beachtung?

Dieser Artikel ist der zweite Teil einer Betrachtung, wie der sogenannte „Willen des Volkes“ in unserem politischen System eingearbeitet ist. Hier geht es zum ersten Teil.

Bis hierhin drehten sich die Überlegungen um institutionelle Anordnungen, auf welche Weise das Prinzip der Volkssouveränität und der Wille des Volkes in Wahlen am Besten zur Geltung kommen können. Doch warum ist es überhaupt notwendig, derart komplizierte, miteinander im Streit liegende Gebilde zu erschaffen? Warum bildet sich ein Regierungsprogramm nicht einfach daraus, was das Volk möchte? Warum kann also, wenn das Volk der Souverän ist, nicht ausschließlich der Wille des Volkes die Regierung bilden?

Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, ein paar Jahrhunderte zurückzublicken. Als wenige Jahrzehnte vor Ausbruch der französischen Revolution die Idee entwickelt wurde, dass alle Macht vom Volk ausgehen soll, stellte sich nämlich ebenfalls die Frage, wie dieses Prinzip der Volkssouveränität denn eigentlich umgesetzt werden soll. Der „Wille des Volkes“ ist der Ursprung der Demokratie, aber ohne Schranken führte er immer wieder in die Diktatur.

Wie ein Waisenjunge in Paris die Volkssouveränität entdeckte

Als der Genfer Jean-Jaques Rousseau in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Stadttore von Paris in einer Kutsche durchquerte, war noch nicht absehbar, dass er einmal als Mitbegründer der modernen Demokratie in die Geschichte eingehen würde. Seine Kutsche rollte über das Pflaster der wichtigsten Stadt Europas, das Paris der damaligen Zeit lässt sich als Prolog zur französischen Revolution begreifen. Was 1789 mit dem Sturm auf die Bastille in die Geschichtsbücher einging, war der Ausbruch eines Gedankens, der bereits jahrzehntelang durch die Stadt kursiert war und von immer mehr Leuten mit immer weniger Skrupel diskutiert wurde: Die Herrschaft der Krone ist am Ende.

Gemeint war das feudale, später absolutistische Herrschaftssystem, in dem ein Monarch sich auf Gottes Wille beruft, um seine Untertanen nach eigenem Gutdünken zu dirigieren. Der absolutistische Herrscher steht über dem Staat, über dem Gesetz und über allen anderen Menschen, der Adel bekommt etwas von diesem Glanz ab, kurzum: Menschen stehen von Geburt an über, oder, was sehr viel wahrscheinlicher war, unter anderen Menschen. Sie sind ungleich geboren, und, da sie dem Herrscher verpflichtet sind, sind sie auch unfrei geboren.

Rousseau, der auch aufgrund der eigenen Biografie zeitlebens ein schwieriges Verhältnis zu Autoritäten aufwies, machte genau diese Problematik zu seinem Ausgangspunkt. Er ging allerdings noch weiter: Nicht nur die Monarchen unterdrückten seiner Ansicht nach die Menschen, sondern alle, die ihr Eigeninteresse vor das der Gemeinschaft stellten. Rousseau zielte damit vor allem auf einflussreiche und kapitalstarke Bürger ab, die ihr Vermögen dazu nutzten, sich selbst auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Als Antwort auf diese Quellen der Unfreiheit entwickelte er ein Gesellschaftssystem, in welchem die Menschen seiner Ansicht nach ihre ursprüngliche Freiheit zurückerlangen könnten.

Indem alle Menschen zusammenkämen und einen Vertrag schließen würden, so stellte sich Rousseau vor, ließe sich ein modernes politisches System begründen. Sie würden sich darauf einigen, ihre Freiheit abzugeben, aber nicht an einen übermächtigen Herrscher oder an reiche Eliten, sondern an die Gemeinschaft. Dafür würden sie von der Rolle des Untertanen befreit und bekämen stattdessen die des Bürgers zugewiesen. Das Tauschgeschäft erscheint plausibel: Der Mensch ist nun immer noch Gesetzen und Regeln unterworfen, aber er ist nun selbst Teil der Gesetzgebung. Was daraus entstehen würde, so Rousseau weiter, wäre ein Zusammenschluss, der stark genug wäre, sich gegen den verderblichen Einfluss der egoistischen Wenigen zu wehren. Dieser Zusammenschluss wäre nur der „volonté générale“, also dem Gesamtwillen, oder, anders formuliert, dem Willen des Volkes unterworfen. Dieses Prinzip sollte später unter dem Begriff „Volkssouveränität“ in die Geschichte des Denkens eingehen.

Die totale Freiheit kann es nie geben

Doch genau an dieser Stelle ergibt sich ein zentrales Problem: Wie wird der Wille des Volkes ermittelt? Wer sollte darüber bestimmen, wer in der Lage sein, zu erkennen, was der Wille des Volkes ist? Dass Menschen erst dann frei sein würden, wenn sie gemeinsam als Gleiche über ihr Schicksal entscheiden würden, scheint plausibel, aber was geschieht, wenn die Gemeinschaft Minderheiten und Andersdenkende auf ganz legalem Weg zu unterdrücken beschließt? Die Unfreiheit der Wenigen würde das eigentliche Ansinnen Rousseaus wiederum ad absurdum führen. Rousseau löst diese Problematik auf eher dürftige Weise: Der Volkswille spiegele sich immer in der Mehrheit wider. Wer überstimmt würde, der müsse im Nachhinein schlicht anerkennen, dass er sich über den Volkswillen getäuscht hätte.

Ein solches System, welches Pluralismus und unterschiedliche Ansichten zugunsten des Zusammenhalts der Gemeinschaft unterdrückt, öffnet jedoch Tür und Tor für das, was der Theoretiker Alexis de Toqueville später als große Gefahr für die Demokratie ausmachte: Eine Tyrannei der Mehrheit, in der einige Bevölkerungsgruppen, welche dauerhaft in der Minderheit sind, auf ganz legale Weise durch die Mehrheit unterdrückt werden. Auch Rousseau erkannte dieses zentrale Problem seiner Theorie später an, war aber nicht in der Lage, einen Lösungsvorschlag zu entwickeln, damit die Gesellschaft nicht von einer Unfreiheit in die nächste abrutschen würde.

Dennoch wurde das Prinzip der Volkssouveränität, also die Vorstellung, dass nur die Bürgerinnen und Bürger gemeinschaftlich über die Regeln des Zusammenlebens entscheiden könnten, zum Meilenstein des politischen Denkens. Es spielt eine wichtige Rolle in heutigen liberalen Demokratien, wird dort aber begrenzt und um Schutzrechte für Minderheiten und oppositionelle Bewegungen sowie um einen Konkurrenzkampf in den Parlamenten ergänzt.

In den Fällen, wo der „Wille des Volkes“ jedoch vermeintlich klar erschien, wo sich in der Bevölkerung eine Stimmung ausbreitete, die diesem Prinzip alles unterzuordnen bereit war, entwickelten sich totalitäre Systeme, die im Namen der Demokratie und der Volkssouveränität viele Menschen systematisch unterdrückten. So folgte bereits in der Hochphase der französischen Revolution, wenige Jahrzehnte nach Rousseaus Veröffentlichungen, das Terrorregime der Jakobiner, welche sich unter Leitung von Maximilien Robespierre explizit auf Rousseaus Ansatz bezogen. Weil die Jakobiner glaubten, den objektiven Willen des Volkes zu erkennen und zu verwalten, sahen sie sich auch im Recht, im Namen der Gleichheit unzählige Menschen hinrichten zu lassen und die Bevölkerung mit staatlichen Mitteln zu terrorisieren. Nachdem später Karl Marx den Willen des Volkes mit dem der arbeitenden Klasse gleichsetzte, führte auch diese Deutung Rousseaus in den stalinistischen Totalitarismus. Der „verderbliche Einfluss“ war hier wiederum das Kapital, bzw. die wohlhabende Bevölkerungsschicht. Aber auch für die Nationalsozialisten und deren rechtsintellektuellen Vordenker, wie beispielsweise Carl Schmitt, spielte der rousseauistische Volkswille eine zentrale Rolle: Hier lag die Betonung auf dem „Volk“. Die Bedrohung kam nun angeblich von den „Volksfeinden“, Minderheiten innerhalb der Bevölkerung, welche zuerst ausgeschlossen und dann auf der schlichten Grundlage, dass sie existierten, auf bestialische Weise verfolgt wurden. Auch im Nationalsozialismus war es die Figur des Führers, der angeblich in der Lage war, den Willen des Volkes zu erkennen und umzusetzen, welche die ursprüngliche Idee Rousseaus, Menschen zu freien Bürgerinnen und Bürgern zu machen, vollkommen pervertierte.

In Einigkeit und Streit auf der Suche nach dem Volkswillen

Weil also der „Wille des Volkes“ nie objektiv feststehen kann, sondern auf vollkommen unterschiedlichen Perspektiven, Lebenswirklichkeiten und Weltanschauungen basiert, muss er immer wieder neu verhandelt werden. Aus dem „Volk“ wird eine „Bevölkerung“ welche aus verschiedenen Menschen mit verschiedenen Wertvorstellungen, welche also pluralistisch aufgebaut ist. Der Mehrheitsentscheid stellt auch heute noch das zentrale Prinzip der Entscheidungsfindung dar, aber Grundrechte errichten nun eine Schranke vor dem, was die Mehrheit der Bevölkerung der Minderheit zumuten kann. Natürlich zeigt sich in liberalen Demokratien wiederum das ursprüngliche Problem Rousseaus, wenn einige Menschen über mehr Einfluss verfügen als andere, sei es durch Besitz oder ein gut vernetztes Elternhaus. Wenn aber die Bevölkerung ihre Interessen einbringt, sei es durch die Beteiligung an Wahlen oder andere Formen der politischen Partizipation, so setzt sich letztlich das System der Volkssouveränität durch. Der Unterschied besteht allein darin, dass es den Willen des Volkes nicht gibt, sondern immer wieder eine komplizierte Stimmungslage, die sich auch jederzeit ändern kann und die es immer wieder neu abzufragen gilt.

Die Institutionen der Demokratie, allen voran Parlamente und Regierungen, sind daher ganz bewusst um das eingangs erwähnte Dilemma herum konstruiert: Es braucht Konkurrenz, Kampf und Streit, aber es bedarf ebenso der Einigkeit, der Kompromissbereitschaft und der Kontinuität. Diese Prinzipien unterschiedlich zu gewichten bringt verschiedene politische Kulturen hervor, die jeweils eigene Vor- und Nachteile aufweisen.