Jüdische Spuren in Krakau

Kapitel 2 der Gedenkstättenfahrt 2016 – jüdische Entwicklungslinien bis in die Gegenwart. In Krakau begeben wir uns auf die Suche nach manifesten Spuren jüdischen Lebens in der Stadt. Zentral ist hierbei das Viertel Kazimierz, in dem sich über 500 Jahre jüdischer Geschichte spiegeln.

Die Situation der europäischen Juden im Mittelalter war seit jeher schwierig: häufig mussten sie diskriminierende Sondersteuern zahlen, hatten keine Staatsbürgerrechte und wurden immer wieder aus ihren angestammten Wohngebieten vertrieben. In jedem Fall waren die Juden sehr abhängig von der Gunst des jeweiligen Herrschers, denn er bestimmte ob sie im Land geduldet wurden und welche Rechte sie besaßen. 

Die Juden: „Besitz des polnischen Königs“

Im 14. Jahrhundert kamen die ersten Juden aus Westeuropa nach Polen. Grund dafür war, dass der damalige König Kasimir der Große die Wirtschaft seines Landes vorantreiben wollte und in der geschäftstätigen Eilte der westeuropäischen Juden ein großes Potential dazu sah. Um sie anzulocken, gestand er ihnen weitreichende Rechte zu und stellte sie unter seinen persönlichen Schutz. Die Juden galten als „Besitz des polnischen Königs“ und waren dadurch vor jeglichen Verletzungen geschützt.

Bis in die frühe Neuzeit kann man in Polen von einem absoluten „paradis judeorum“ sprechen: die Juden hatten in den Städten, die direkt vom König beherrscht wurden (so wie Krakau) gute wirtschaftliche und soziale Bedingungen. So wurde Polen im Laufe des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit zu einem der größten und dynamischsten jüdischen Siedlungspunkte Europas.

Wir beginnen unseren Rundgang bei der alten Synagoge. Sie wurde Ende des 15. Jahrhunderts von der neuen jüdischen Gemeinde im Viertel erbaut und diente zu dieser Zeit als Gebetsraum und Gemeindezentrum. Lange Zeit war Frauen der Zutritt zur Synagoge verboten – sie mussten zum Beten bei bis zu -30 Grad draußen vor der Tür stehen bleiben. Erst ende des 17. Jahrhunderts wurde ein kleiner Frauengebetsraum errichtet. Heute wird die Synagoge nicht mehr zu rituellen Zwecken genutzt, sondern beherbergt ein Museum.

Leben, Tod und Kontakt zu Gott

Die nächste Station ist die neue Synagoge, auch Remuh-Synagoge genannt. Sie wurde vom Geld einer Jüdin aus Regensburg erbaut und war zuerst nur Gebetsstätte für Familie und Freunde, bevor sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Sie ist besonders durch Remuh, einen Sohn der Familie berühmt, der als einer der wichtigsten jüdischen Geistlichen in Polen gilt. Er legte den Talmud neu aus und wird in der jüdischen Theologie einer Reihe mit den Autoren der Schrift genannt.

Auf dem jüdischen Friedhof nebenan wird deutlich, welches Verständnis vom Tod der jüdische Glaube vorgibt: die Toten gehören Gott und der Tod ist vom Leben abgetrennt. Man sollte die Gräber seiner Verwandten nicht besuchen und erst recht keine Blumen niederlegen, da dies eine Respektlosigkeit darstellt. Stattdessen liegen schwere Steintafeln auf den Gräbern. Dies soll einerseits die Trennung von Leben und Tod symbolisch darstellen und ist andererseits eine praktische Tradition aus dem ägyptischen Exodus: die Steintafeln sollten damals in der Wüste verhindern, dass die Leichen von wilden Tieren ausgegraben werden.

Die Krakauer Mauer dient dazu, den Toten seine Wünsche und Hoffnungen in Form von Bittschriften zu vermitteln, die sie dann an Gott weitergeben sollen. Besonders viele Zettel finden sich bei den Steinen, die mit einem Handmotiv verziert sind, da dies die Tafeln von verstorbenen Priestern sind, von denen eine enge Verbindung zu Gott erwartet wird. Dasselbe findet sich in extremen Maße bei dem Grabstein Remuhs.

Während der NS-Zeit wurde der jüdische Friedhof als Müllhalde und Lager für Baumaterial genutzt. Das ist auch der Grund warum er bis heute so gut erhalten ist: der Schutt schütze die Grabsteine vor Bomben während des Krieges und vor Plünderern, die nach dem Krieg Steine für den Wiederaufbau suchten.

Das mittelalterliche Kazimierz war eine eigenständige Stadt auf einer kleinen Wawelinsel.  Hier galten eigene jüdische Gesetze, die sich aus der Thora ableiteten und von Rabbis ausgelegt wurden. So verbat es zum Beispiel der Grundsatz der Barmherzigkeit, Mietschuldner während der Wintermonate rauszuschmeißen und der Grundsatz der Bescheidenheit, keinen prunkvollen Schmuck offen zu tragen.

Die männlichen Juden gingen üblicherweise 8 Stunden am Tag in Thoraschule, lernten gut rechnen, lesen und schreiben und wurden deswegen nach ihrem Abschluss gerne vom Adel als Verwalter eingestellt. Im orthodoxen Judentum war Schulbildung den Frauen verwehrt, sie lernten nur praktische Dinge des Haushalts und waren üblicherweise nicht des Lesens und Schreibens mächtig.

Jüdische Reformation und Moderne

Lange Zeit lebten die Juden in einer Parallelgesellschaft und wurden nie gezwungen, sich zu assimilieren. Erst in der Habsburgmonarchie wurde auch in Polen die reguläre Schulpflicht eingeführt, was zu ersten dauerhaften Kontaktpunkten mit der christlich-polnischen Bevölkerung führte. 

Die neue Synagoge ist ein Symbol der jüdischen Reformation, die in der 1880ern aus Deutschland nach Polen ausstrahlte. Der Reformator Moses Mendelsohn forderte die Juden in seiner Lehre dazu auf, sich nicht mehr abzugrenzen und ihren Glauben im Kontext mit dem Rest der Gesellschaft zu leben. Es kamen wesentliche Neuerungen hinzu – in der Synagoge wurde nun auf Polnisch gebetet und auch Frauen durften an den Riten in der Synagoge teilnehmen.

Die neue Synagoge steht an der Grenze des alten Kazimierz mit dem Krakauer Altstadt; der physische Schritt in Richtung Stadtzentrum ist auch als ideologischer Schritt in Richtung polnischer Gesamtgesellschaft zu werten. Die reformierten Juden vierließen von nun an häufig ihr Viertel und traten in regen Austausch mit den christlichen Polen. Zudem wurde auch die Weichsel an dieser Stelle trockengelegt, sodass Kazimierz direkt an den Rest Krakaus anschloss und im Jahr 1800 eingemeindet wurde.

Etwa 5000 Krakauer Juden überlebten den Holocaust, jedoch wurden die Perspektiven für eine Rehabilitierung des jüdischen Lebens in der Stadt vorerst durch die strikten anti-zionistischen Sozialgesetze der sozialistischen Autoritäten begraben. Bis 1970 hatten so gut wie alle dort lebenden Juden das Land in Richtung Israel verlassen. Kazimierz verkam zum unbedeutenden Vorort.

Der Fall es eisernen Vorhangs brachte neue Hoffnung – ab Mitte der 1990er Jahre siedelten sich wieder vermehrt jüdische Künstler an und das jüdische Leben wird durch eine rege Kultur- und Musikszene widerbelebt. Unser Tag in Kazimierz endet im Restaurant Ariel bei traditionellen Speisen und einem Konzert der Klezmerband Legend of Kazimierz „Ich finde es schön, dass wieder junge jüdische Leute hierherkommen“ sagt mir der Oboist der Band bei unserm Gespräch nach dem Konzert „das fühlt sich für mich einfach richtig an“.