Gedenken und Gedanken: Offene Worte im Dialog

Bad Elster, 13. September 2015: Auf das Publikum im König-Albert-Theater wartete die Veranstaltung „Gedenken und Gedanken: Offene Worte im Dialog“. Die Protagonisten des Abends hießen Dr. Gregor Gysi, DIE LINKE, und Frank Richter, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Ein vielversprechender Titel, ein ebenso vielversprechendes Podium im Dreiländereck Sachsens, Bayerns und Tschechiens.

Mein persönliches Interesse als Zuhörer bestand darin, die Einschätzungen der beiden zur Entwicklung der letzten 25 Jahre und darüber hinaus zu erfahren, so wie es der Titel versprach. Das Interesse aller anderen im Saal bestand wohl darin, Erklärungs- und Lösungsansätze zu aktuellen Herausforderungen mit nach Hause zu nehmen. Daher nahm der Abend für mich einen anderen Verlauf, als ich angenommen hatte: sehr gut.

Dieser Blogbeitrag handelt von Interessen – den Interessen der Podiumsgäste, des Publikums und des Autors

Gregor Gysi war es, der die Eingangsfrage, ob er von den Plänen, erneut Grenzkontrollen einzuführen, gewusst habe, beantworten sollte. Als Fraktionschef der Linken im Deutschen Bundestag war er zuvor von Innenminister De Maizière informiert worden, so der Berliner Gysi. Die bestehenden Probleme löse dieser Schritt allerdings nicht, ließ er sogleich wissen. Seiner Meinung nach sei die Bundesregierung überfordert, mit den Ängsten der Bevölkerung, den (sich möglicherweise hieraus verstärkenden) rechtsextremistischen Strömungen und der Flüchtlingssituation als solcher. Diesen Eindruck kann man teilen, muss man aber nicht. Die Ausführungen des scheidenden Fraktionsvorsitzenden wurden immer wieder mit Applaus aus dem Auditorium bedacht. Gysi war in seiner klar erkennbaren Rolle als Vertreter der Opposition vor allem eines, Interessenvertreter seiner Sache, seiner selbst.  

Über das Wesen der repräsentativen Demokratie

Aber nicht nur er, (wir) alle waren es. Genau dies, die – in Abgrenzung zu anderen – eigenen Interessen zu artikulieren, sei das Wesen des demokratischen Verfassungsstaats, der repräsentativen Demokratie, so Dr. Gregor Gysi. In dergestalt outete er sich als Fan der Union, sie gehöre nämlich in den Bundestag. Vielerorts werde das Wesen der Demokratie  nicht als solches erkannt und wahrgenommen.

In diesem Punkt herrschte Einigkeit zwischen den Podiumsgästen. Frank Richter berichtete von zahllosen Zusendungen von „besorgten Bürgern“, die sein Haus in den letzten Monaten erreicht hätten. Das Interesse des Direktors der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung an jenem Abend bestand mutmaßlich darin, abseits des alltäglichen Parteienwettstreits, aktuelle Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und Denkanstöße zu geben: Er sei kein Politiker, und froh darüber, bekundete er. Kennt man die Richtlinien der (staatlich organisierten) politischen Bildungsarbeit, verwundert dies nicht. Die Zentralen der politischen Bildung arbeiten überparteilich, kontroverse Sachverhalte müssen als solche dargestellt werden, überdies gilt ein Überwältigungsverbot, niemand darf indoktriniert werden. So ist auch sein Verweis auf das Böckenförde-Theorem zu verstehen. Nach jenem könne der demokratische Staat, die ihn tragenden Werte nicht von sich aus garantieren. Die repräsentative Demokratie bedürfe der inneren Zustimmung jedes Einzelnen. Zu Verdeutlichung nutzte Richter den Begriff des citoyen.

Religion als Quelle einer Werteordnung?

Im Folgenden diskutierten Gregor Gysi und Frank Richter über die Religion als mögliche Quelle einer Werteordnung. Das war der Moment für beide, auf die wohl größte Herausforderung für die Ostdeutschen zu rekurrieren. War es doch die Werteordnung (des Sozialismus), die nach 1989 – gleichsam von heute auf morgen – verschwunden war und die Individuen ohne Orientierung zurückgelassen hat. In der Soziologie ist dies unter dem Begriff Anomie bekannt, nicht zu wissen, welche (gesellschaftliche) Regeln und Anforderungen Gültigkeit besitzen. Jene Verunsicherung sowie eine vermutete Entsolidarisierung der Gesellschaft wirken nach, sind sich beide einig. Dies erschwere die Akzeptanz der Asylsuchenden, die in unserem Land Zuflucht suchen.

Verfassungspatriotismus – das Grundgesetz als sinnstiftende Ressource des Zusammenlebens

Neben der Religion wurde die Rolle der Artikel 1 bis 20 des Grundgesetzes als Quelle einer gemeinsamen Wertebasis diskutiert. Der Direktor der Landeszentrale sieht in jenen Rechtsnormen einen Schatz, den wir unser eigen nennen können. Alle in Deutschland lebenden Menschen sollten sich hierauf freiwillig verpflichten. Gysi stimmt zu, nicht die Nationalität eines Menschen sei von Bedeutung, sondern das Individuum als solches. Beide sprachen über einen Verfassungspatriotismus, wie er von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas vertreten wird, ohne jenen beim Namen zu nennen. 

Die Hauptdarsteller des Abends – wir waren Gast in einem Theater – haben ihre Interessen in den rund 90 Minuten vertreten können. Sie haben es gut macht: die Lobbyarbeit für ihre Sache. Der Blog handelt im Weiteren über die Interessen des Publikums und des Autors.

Interessenvertretung – jeder tut es

Das Interesse des Publikums lässt sich über dessen Zustimmung erkennen. Zustimmung erfolgt in einem Theater vor allem durch Applaus. Nimmt man dies als Grundlage, bestand das Interesse der meisten Zuhörer wohl darin, Gregor Gysi in dessen Oppositionsrolle zu erleben. Seine Anspielung, Bad Elster sei ein Bezirk von Berlin, kam nicht von ungefähr. Gut so. Opposition ist ein Grundpfeiler der Demokratie.

Der Autor dieses Blogs, der auf Honorarbasis für die Landeszentrale tätig ist, hat das Interesse, einen möglichst kurzweiligen und informativen Text zu verfassen. Im Fokus soll ein Bildungseffekt stehen. Die Aufgabe lautet, eine Nische, eine spezielle Perspektive, ausfindig zu machen. Nicht zuletzt in Abgrenzung zu einem journalistischen Artikel, der zu dieser Veranstaltung erschienen ist. Das Interesse der Presse im Allgemeinen, lassen Sie mich das kurz ausführen, liegt neben der Information darüber, was eine Neuigkeit ist, zunächst einmal darin, ihre Zeitungen, Magazine und Hefte zu verkaufen. Dabei müssen Journalisten Aufmerksamkeit generieren und sich gegen Wettbewerber durchsetzen. Ein Beispiel: Der Artikel, indem Bekanntes zu finden ist, so zum Beispiel „Hund beißt Frau“, wird kaum Resonanz finden. Jener mit der Überschrift „Frau beißt Hund“ durchaus.  

Gedenken und Gedanken – was bleibt?

Man muss die Interessen der Akteure kennen und verstehen, um ihre Handlungen nachvollziehen zu können. Er sei es leid, so das Aushängeschild der Linken, dass man A (obwohl man vielleicht D meine) sagen müsse, um B dazu zu bewegen, C zu veranlassen. So aber funktioniert Politik – so funktioniert der Mensch. Die Kenntnis UND AKZEPTANZ der Interessen des Anderen sind die Grundlage.

Akzeptanz des Anderen – eine Gratwanderung

Dass es am letzteren mitunter mangele, kritisierte Frank Richter scharf. Der frühere Ethiklehrer bezog sich auf einen Fall im Deutschen Bundestag, bei dem die Geringschätzung des politischen Mitbewerbers offensichtlich zu Tage trat.

Im Interesse der Parteien liegt es im politischen Alltag stets auch darin, kompetenter zu erscheinen als die andere. Es geht um das Erlangen möglichst vieler Mandate bei der nächsten Wahl. Politiker, die eine öffentliche Vorbildfunktion qua Position besitzen, müssen dieser gerecht werden – ein schmaler Grat. Da sind sie sich wieder einig, die Protagonisten des Abends.