Ein Besuch an der äußersten Aussengrenze Europas auf Lesbos

"Ja, die Afghanen und die Syrer denken, Europa gibt es schon. Aber das war eine Illusion. Es gibt das Europa der gemeinsamen Währung, der gemeinsamen Banken, der Montanunion, des zollfreien Warenraums, des Schengenraums. Aber es gibt die EU noch nicht als Wertegemeinschaft." Zu dieser Erkenntnis gelangt Rupert Neudeck bei seinem Besuch eines Flüchtlingslagers in Skala Sikaminias auf Lesbos.

Wir stehen an der Küste von Skala Sikaminias und sehen in vier Kilometer Entfernung die türkische Küste. Schwedische Helfer haben am Abend Nachtsichtgeräte dabei und erwarten drei weitere Schlauchboote, die völlig überladen an der griechischen Küste ankommen. Was hier an der Grenzmarke zwischen Europa und Asien (hier noch Kleinasien genannt) geschieht, wird dieses Europa noch lange beschäftigen. Es ist ein nicht endender Strom von Menschen, die aus der Tiefe Afghanistans und Syriens und der Türkei kommen, abgerissen, nass meist nach der heimlichen Bootsfahrt. Als ich ankam am 6. Oktober, gab es den heimlichen Verdacht, dass der Präsident der Türkei auf Grund seiner allumfassenden Machtvollkommenheit schon die Küste gesperrt hätte und keine Boote mehr hinüberlassen wollte. Dass er also die Küste geschlossen hätte. Man hatte mir telefonisch schon sagen wollen, ich brauche nicht mehr zu kommen, das Problem sei vorbei. Es kämen keine Flüchtlinge hier mehr über die Meerenge.

Dann aber am 8. Oktober wieder 5, 6, 7 Boote an verschiedenen Küstenorten auf dieser heimeligen Ferieninsel Lesbos, die die Griechen immer in ihren Buchstaben Lesvos schreiben. Ein orthodoxer Priester mit dem für den Ort typischen Namen Pater Christoferos hatte endlich ein besseres Empfangshaus aufgebaut, auf halber Strecke auf dem Berg, wohin die Flüchtlinge jetzt in kleinen VW-Bussen gebracht werden.

Man sieht diese Gesichter, die vor Glück an der Küste anfangen zu weinen, besonders die Mütter mit ihren Kindern, die ihre erste heiße Suppe und ein Brot zu essen bekommen und eine Flasche Wasser, die auf einmal wissen, ganz gleich wie schlecht das hier organisiert ist, es ist aber EUROPA. Und man wird hier nicht mehr wie im Iran und in der Türkei verfolgt, geschlagen, mit der Waffe bedroht. Immer wieder fragt man sich, wie kann man es schaffen, dass nicht mehr Hunderttausende kommen, denn weitere Hunderttausende hält unser Nervenkostüm nicht mehr aus.

Es gibt aber in Bezug auf die beiden großen Einheiten von Nationalitäten nur diese Alternativen. In Syrien gibt es nur die Alternative: Man beendet die Flucht der Syrer und führt sie in ihre Heimatregion zurück. Das geht aber nur dann, wenn der Sicherheitsrat dem Herrscher in Damaskus verbietet, die Luftwaffe mit Fassbomben gegen seine Bevölkerung einzusetzen. Oder man nimmt sie auf, in Europa. Und das heißt im Moment immer noch in Deutschland. Sie kommen bis jetzt alle zu uns, keiner denkt, er hätte das Zeug, das Geld, die Kraft dazu, das auch zu tun. Wie selbstverständlich sagen die Europäer östlich von Italien, Österreich, Deutschland: Das haben wir nicht gewollt und machen wir nicht.

Und bei den Afghanen, die zu Tausenden jetzt hier an den Küsten von Lesbos anstürmen, ist es mit der Alternative ähnlich. Entweder wir und die gottverlassene nichtsnutzige Regierung in Afghanistan sorgen dafür, dass der wirtschaftliche Aufbau entsteht, Arbeitsplätze kreiert werden für die unglaubliche Masse an jungen Leuten – oder sie kommen zu hunderttausenden zu uns. Dass die total von der afghanischen Bevölkerung isolierte Bundeswehr dazu nichts geleistet hat, scheint eindeutig. Nur einige Wehrexperten im Bundestag haben diese totale Selbstisolierung der Bundeswehr in deutschen Kleinstädten ausgegrenzt von afghanischer Wirklichkeit mit TÜV und Mülltrennung nicht bemerkt, weil sie es so bequem gefunden haben, mit der Bundeswehrairline über Termez /Usbekistan dorthin gebracht zu werden.

Bei uns alle aufnehmen? Ja, das wird schwierig. Aber die Botschaft ist weit zu den enttäuschten jungen Menschen gedrungen, die alle mittlerweile ein Handy oder ein Smartphone haben. Während wir an der Küste in Skala Sikaminias die Leute mit ihrem kleinen Gepäck auf dem Rücken ganz nass an uns vorbeigehen sehen, sind diese schon dann dabei, mit ihrem Handy oder Smartphone ihre Familie oder Zurückgebliebene an der türkischen Küste anzurufen, um ihnen zu sagen: Es geht, wir sind angekommen, man hat uns hier freundlich empfangen.

Wieviel werden wir schaffen? Fragt man sich dort am Tage und in der Nacht. Die Strände sind gezeichnet von dieser großen Menge von Booten, die oft zerstört, manchmal auseinandergenommen werden, von wild herumliegenden Schwimmwesten und Rettungsringen. Man kann nicht einschätzen, ob es ein geheimes Joint Venture gibt zwischen denen hier (Lesbos) und den Schleusern dort (Türkische Küste, Izmir, Mersin). 1994/5 haben wir 400.000 Flüchtlinge auf einen Schlag aus dem Bürgerkriegsland Bosnien aufgenommen. Das klappte hervorragend, hat uns aber schon in den Ruf gebracht, den ich für uns Deutsche so gut finde, dass wir bei der humanitären Arbeit und Aufnahme immer an der Spitze stehen sollten. Nachdem wir in der Geschichte einmal so total versagt haben, wollen wir uns dabei von Niemandem übertreffen lassen.

Ja, die Afghanen und die Syrer denken, Europa gibt es schon. Aber das war eine Illusion. Es gibt das Europa der gemeinsamen Währung, der gemeinsamen Banken, der Montanunion, des zollfreien Warenraums, des Schengenraums. Aber es gibt die EU noch nicht als Wertegemeinschaft. Das Wort müsste ja eine freundliche Aufnahme in dem Land Griechenland bedeuten. Und dann würde man vielleicht organisieren, Griechenland zu entlasten. Aber es fängt schon damit an, dass ich keinen Griechen hier an der Küste sehe. Es wuselt so von Helfern, unberatenen und guten, aber es sind alles Menschen, die aus Deutschland, aus den skandinavischen und anderen Ländern kommen, manchmal völlig unbedarfte junge Leute und Mädchen, die nicht wissen, dass man sich zum Empfang von traditionell aufgewachsenen Afghanen nicht halbnackt zeigt. Also wenig Professionelles ist hier zu erkennen. Und kein Grieche. Die Bevölkerung, die Polizei beobachtet das, was da abgeht und sorgt, dass mit der Müllabfuhr dann die zerstörten Schlauchboote, Rettungsringe und Rettungsschwimmwesten in einen Müllwagen versinken. Der einzige Grieche, den wir sehen, ist leider keiner: der große Pope Pater Christoferos mit dem sichtbar großen Holzkreuz auf dem Mönchsgewand, das er stolz trägt, wenn er über die Hauptstraße von Sakla Sikaminia geht, ist ein – Kalifornier. Pope bei den US-Griechen, die sich dort niedergelassen haben.

Ich war hierherkommen, weil das deutsche Ärzteehepaar Dr. Khalil und Dr. Bita Kermani hierher gebeten wurden, als Ärzte. Aber auch als diejenigen, die wegen ihrer Sprachfähigkeit sich unterhalten konnten mit den Afghanen, die ja in der überwiegenden Mehrheit das Dari sprechen, was das afghanische Persisch ist. Die beiden haben ihren Urlaub ganz selbstverständlich und fast fröhlich sein gelassen, sind dem Ruf Ihres Bruders Navid Kermani gefolgt. Sie waren schon auf Kreta, sind dann weiter geflogen, haben einen VW-Bus gemietet und besorgen hier Essen, Isomatten für 10 Euro, Schlafsäcke, holen auch noch eine Freundin aus Bayern, die auch noch mal mit tollen Klamotten ankommt.

Wir sind auf dem Weg mit dem Bus in das Lager Moria, ein Alptraum für den, der sich vorstellen kann, was ein Lager ist. Ich habe ein so schlechtes, so miserabel für die Flüchtlinge ausgelegtes Antilager noch nicht erlebt. Es soll eine alte Militärkaserne sein, wirkt aber eher wie ein befestigtes Gefängnis, in dem es auf der Straße hoch auf dem Hügel Plätze zum Lagern gibt, zum Aufschlagen von Zelten. Ganz viele legen sich auf diesen Weg an die Seitenstreifen, an dem die vornehmen Autos der Hilfsorganisationen dauernd vorbeifahren. Es gibt kein Camp Management, aber hunderte von Helfern, die keine Ahnung haben, dass man so etwas nicht  machen darf. Die Helfer, auch die Ärzte gehen in der Nacht heraus in ihr schönes Hotel und lassen die Flüchtlinge entweder auf dem bloßen Boden liegen oder in kleinen mickrigen Zelten. Es wird jetzt schon sehr kalt, da sind alte Menschen, da sind kleine Kinder in großer Zahl. Ich habe in 35 Jahren, in denen ich Flüchtlingslager erlebt habe, noch nie ein Lager erlebt, in dem für die hunderte Kleinkinder nicht irgendetwas Kindgemäßes organisiert wird. Die Helfer, die da hin und hergehen und Zugänge und Gittertore bewachen vor den Flüchtlingen fühlen sich ganz stolz. Ich verstehe es nicht. Keiner hat hier auf irgendetwas Anspruch. Es hat sich das Lager organisiert auf dem freien Markt. Wie in einem Jahrmarkt stehen die Verkaufsbuden, weil  man zu Recht vermuten darf, dass hier Menschen aus Syrien noch Geld haben. Ich schreibe mir die Preise an dem einen KANTINA Verkaufsbasarwagen auf. Es scheint mir die Flüchtlingsversorgung hier an eine perverse Form gekommen zu sein.

Wenn die Flüchtlinge hier einen Stempel der Einreise und der Registrierung bekommen haben, dürfen sie mit der Fähre, die im Hafen von Mytilini steht, weiterfahren, müssen dafür aber 60 Euro zahlen. So privatisiert der griechische Staat seine Nicht-Hilfe und lässt eigene Agenturen und Firmen daran noch verdienen. Wir haben mehreren Afghanen, die nach der Bezahlung der Boote von der türkischen Küste kein Geld mehr hatten, noch mal 100 Euro zugesteckt. Das, was man unseren auf Gemeinnützigkeit fixierten Ämtern nicht zumuten kann. Und wofür ich mich schämen würde, eine Quittung zu nehmen.

Kurz, wie weit kann das noch gehen? Keiner kann das sagen. Es können nicht alle 12 von 22 Mio. Syrern in Deutschland landen, auch nicht 5 Millionen junge Afghanen bei uns ihre Zukunft finden.

Aber wie kann man das stoppen, ohne dort jetzt hinzugehen und Firmen mitzunehmen, die dort investieren? Das hätte man 2003 machen müssen, als man den Emir von Herat hatte, der einen Industriepark vorbereitete. Damals aber setzten die USA ihn ab und wollten den Flughafen von Herat haben als ihre eigene Basis.

Es ist ein weltgeschichtlicher Moment, den wir noch nicht ausschöpfen können. Dass sich hunderttausende Muslime zum ersten Mal aus Afghanistan nicht nur zum Iran, sondern über zwei feindliche ihnen gegenüberstehende Länder, in denen sie geprügelt und bedroht werden, bis nach Europa durchschlagen, das ist eine spannende Geschichte. Die Wut, die der syrische Schriftsteller Rafik Schami ausspricht, haben insgeheim natürlich hunderte von Millionen Araber. Bisher galt die muslimische Umma als das hegende Feld, in der man zu Hause war, jetzt aber gehen Muslime ausdrücklich über die unfreundlichen islamischen Länder Iran und Türkei Muslime nach Europa, um dort ein menschenwürdiges Leben, ein gutes Leben zu führen. Die Wut wird umso stärker, sagt Rafik Schami, wenn er an Dubai denkt, das sich zu einem Hort des Verbrechergeldes entwickelt hat. „So hat der Cousin von Assad  6,5 Milliarden Dollar aus Syrien nach Dubai geschafft“. Das sei geklaut mit dem Schweiß und Blut des syrischen Volkes.

Als wir das letzte Mal zurückfahren von der Küste, laufen vor uns vier junge Flüchtlinge mit einer alten Frau im Rollstuhl. Zack, bleibt Khalil Kermani stehen, nimmt sie auf und sagt: „Gott sie dank, haben wir die erreicht, denn die wären in der Nacht erfroren.“ Die alte Frau hat eine Nierenschwäche und muss dringend behandelt werden. Wir erfahren, die Söhne waren alle schon außerhalb des Landes im Iran, da hat die alte Mutter gesagt, sie könnte nicht ohne die Söhne leben. Dann haben sie sie mit dem Rollstuhl auf der irrsinnigen Odyssee durch den Iran und die Türkei gebracht und auf ein Schlauchboot für 100 Dollar gesetzt. Und jetzt fahren wir nach Moria, um dort die Registrierung zu bekommen. Ob ich denn erreichen kann, dass man für diese alte kranke Frau im Rollstuhl eine humanitäre Lösung findet, damit sie gleich nach Deutschland kommen kann? Ich werde es versuchen.