Der erste Stein aus der Berliner Mauer

Es war Dienstag, der 2. Mai 1989. Das ungarische Außenministerium hatte überraschend zu einer wichtigen Pressekonferenz der "Ungarischen Volksarmee" eingeladen. Termin vormittags 10 Uhr in Hegyeshalom, einem Grenzort zu Österreich an der Straße Wien - Budapest. Joachim Jauer war Korrespondent für das ZDF und erlebte wie ein erstes Loch in den Eiserenen Vorhang gerissen wurde.

Im Klassenraum der Dorfschule hatten vor der Tafel Militärs Platz genommen und verkündeten einigen Journalisten internationaler Medien, dass Ungarn ab sofort die Grenzanlagen zu Österreich - "Eiserner Vorhang" genannt - abreißen werde. Die Bevölkerung sei aufgerufen, bei der Entfernung des Stacheldrahtverhaus mitzuhelfen. Unfassbar für mich, den Berliner, der mit der Mauer leben musste, wenn sie für den West-Berliner auch nicht das Ende der Welt Richtung Westen war.

Der "Eiserne Vorhang" reichte von der Ostsee bis zur Adria und trennte die kommunistisch beherrschten Länder Osteuropas hermetisch vom Westen. Das letzte Schlupfloch in dieser undurchdringlichen Grenzanlage hatte die DDR am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer geschlossen. Und nun: Eine offene Grenze, jedenfalls von Ungarn nach Österreich. Mein Kamerateam und ich wurden in Militärfahrzeugen zum Todesstreifen des "Eisernen Vorhangs" gefahren und durften dort drehen.

Ungarische Soldaten standen bereit. Auf das Kommando "Elöré! - Vorwärts!" begannen sie den Stacheldraht zu zerschneiden. Die rostigen Reste wurden auf LKW verladen, die aus der DDR stammten. Ich habe in der "heute"-Sendung am Abend gesagt: "Hier endet heute nach vierzig Jahren die gewaltsame Teilung Europas in Ost und West". Und ein Presseoffizier der Ungarischen Volksarmee meinte auf meine Frage, hier sei ja nun ein Loch Richtung Westen, natürlich werde es ab und zu Grenzpatrouillen geben aber wahrscheinlich komme demnächst so etwas wie ein Völkerwanderung, doch in einem knappen Jahr werde sich das auch wieder beruhigen. In der alten Bundesrepublik inklusive dem politischen Bonn fand die Nachricht nur gebremsten Widerhall. Doch die ZDF-Zuschauer in der DDR reagierten wie elektrisiert. Wochen danach registrierte die Stasi massenhafte Reisevorhaben nach Ungarn.

Budapest hat mit diesem risikoreichen Akt als erstes Ostblock-Land die Öffnung nach Westen nicht nur praktisch sondern auch politisch gewagt. In der deutschen Erinnerungskultur wird dieser Tag, der 2. Mai, der Voraussetzung für den späteren Exodus Zehntausender aus der DDR nach Ungarn war, ganz überwiegend übergangen. Dieser Strom meist junger Flüchtlinge war die "Speerspitze" der friedlichen Revolution. In der schwierigen Entscheidung "Flüchten oder Standhalten" hatten sie für "Weggehen" votiert. Als "Öffnung des Eisernen Vorhangs" gilt heute sehr oft ein Foto, auf dem der ungarische Außenminister Horn und sein österreichischer Kollege Mock Ende Juni 1989 mit Bolzenschneidern operieren als würden sie ein weißes Band zur Freigabe eines neuen Autobahnabschnitts durchtrennen. Zu diesem Zeitpunkt war der rostige Grenzverhau bereits beseitigt. Das bisschen Grenze, das die Politiker wohl für ein Wahlkampffoto beschnitten, war eine rasch gebastelte zweieinhalb Meter lange Kopie. Auch das sogenannte Pan-Europa-Picknick, das gern als "erster Riss im Eisernen Vorhang" gefeiert wird, fand Ende August 1989 ohne diesen Vorhang statt. Doch die Bilder der durch ein offenes Tor laufenden Flüchtlinge hinterlassen im Medienzeitalter offenbar tieferen Eindruck als der mutige Schritt der ungarischen Reformer und ihrer "Volksarmee" am 2. Mai 1989.

Die Nachricht von der offenen Grenze zu Österreich löste einen Reisestrom meist junger DDR-Bürger nach Ungarn aus. Im Sommer 1989 hielten sich mehrere zehntausend Ostdeutsche in Budapest und den Randgebieten bis hin zum Plattensee auf. Sie lauerten auf eine günstige Gelegenheit, über die "grüne Grenze" in den Westen zu gelangen. Gut 120 von ihnen besetzten die Bundesdeutsche Botschaft in Budapest, die daraufhin ihre Tore schloss. Da das Grundgesetz der Bundesrepublik nur eine deutsche Staatsbürgerschaft kannte, waren für Bonn auch Einwohner der DDR deutsche Staatsbürger. Also hatte die Bundesregierung auch die Pflicht, sich um diese Staatsbürger zu kümmern. Eine komplizierte juristische Gemengelage. Für die Beziehungen Bonns zu Ungarn war das Außenministerium zuständig, das aber Kontakte zu Ost-Berlin meiden musste, denn die DDR war für Bonn nicht Ausland. Die innerdeutschen Beziehungen liefen daher über das Kanzleramt. Ost-Berlin versuchte Budapest wegen Ungarns humanitärer Haltung in der Flüchtlingsfrage unter Druck zu setzen. Und das politische Bonn wollte möglichst geheim agieren, vorbei an den neugierigen Fernsehkameras.

Eine katholische Malteserfrau, die Deutsch-Ungarin Csilla von Boeselager, die schon seit Jahren Hilfstransporte für Bedürftige nach Ungarn gebracht hatte, erfuhr vor Ort von dem ungelösten Flüchtlingsproblem. Sie errichtete gemeinsam mit einem ungarischen Priester im Pfarrhof der Kirche "Zur heiligen Familie" in Budapest-Zugliget das erste Lager für Flüchtlinge von einem sozialistischen "Bruderland" zum anderen. Sie machte den Pfarrhof mit einem Schild "Malteser-Caritas-Dienst" zu einer Art exterritorialem Gebiet. Denn der politisch neutrale, internationale Malteser-Orden gilt wie das Rote Kreuz als souveränes, nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt.

Ungarn richtete nach den Maltesern, die mit großen Hilfszügen des Katastrophenschutzes aus der Bundesrepublik Deutschland und Österreich angereist waren, weitere Flüchtlingslager ein. Agenten der DDR-Staatssicherheit versuchten, als Flüchtlinge getarnt, vergeblich die Lager auszukundschaften. Flüchtlinge stellten eine eigene Wache gegen diese Leute auf, die Menschen aushorchen wollten und die DDR-Autoschilder fotografierten.

Csilla von Boeselager, der "Engel von Budapest" hat mit den Maltesern der anonymen Masse ungezählter Fluchtwilliger ein politisches Gesicht gegeben. Damit hat sie Bonn, Budapest und Moskau gegen das Votum der SED zum Handeln gebracht. Ihr ging es nicht um die "große Politik", sie wollte nur helfen, gemäß dem Motto der Malteser: "Bezeugung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen". Doch ihre revolutionäre Tat ist im vereinten Deutschland nahezu vergessen.

Vier Wochen hielten die Flüchtlinge in den Lagern aus, hin und hergerissen zwischen der Angst, doch noch in die DDR ausgeliefert zu werden, und der Hoffnung auf freie Fahrt in den Westen. Die Malteser suchten die vielen verängstigten Menschen zu beruhigen, weil Ungarn als erstes Land im "sozialistischen Lager" die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert habe und sich damit verpflichtet habe, Flüchtlinge nicht auszuliefern sondern zu schützen. Am 10. September ließ Budapest dann Zehntausende DDR-Flüchtlinge in den Westen ausreisen. Sie überquerten die Grenze ganz in der Nähe von Hegyeshalom, wo am 2. Mai das Ende des "Eisernen Vorhangs" verkündet worden war. Das wiedervereinte Deutschland hat allen Anlass, den Ungarn zu danken. Ohne den 2. Mai wäre die Deutsche Einheit wohl weiter ein Wunschtraum geblieben.