Daten-Roaming, Lobbyismus und die Idee vom Frieden

Vom 4. bis 7. September 2016 fand die erste netzpolitische Brüsselreise der SLpB statt. Fragen der Netzpolitik und der Digitalisierung sind zu einem zentralen Arbeitsgebiet der EU geworden. Bei Besuchen der EU-Institutionen sowie Lobbyverbänden und einer NGO konnten diese Themen mit Fachleuten diskutiert werden. Lesen Sie dazu den Reisebericht eines Teilnehmers.

Wir alle kennen dieses Szenario – Sommer, Sonne, Ferienzeit. Da wir Sachsen als reislustiges Völkchen bekannt sind, fliegen wir Jahr für Jahr nur allzu gern an unsere liebgewordenen südeuropäischen Sonnenstrände. In Zeiten von Billig-Fliegern wird die Reisekasse ja auch nicht mehr allzu stark beansprucht. Alles könnte perfekt sein, wäre da nicht diese lästige Angelegenheit mit dem Mobilfunk. Immer wenn wir mit unseren Liebsten daheim telefonieren, ihnen eine WhatsApp schreiben oder einfach nur das Selfie vom Strand versenden, fallen Zusatzgebühren in erheblicher Höhe an. Ein wahres Ärgernis für alle Freunde der modernen Kommunikationstechnologie. Aber was soll die Europäische Union (EU) damit zu tun haben? Sehr viel sogar! Die Diskussion um die Abschaffung der Roaming-Gebühren auf EU-Ebene ist ein exemplarisches Beispiel für die politischen Prozesse im Spannungsfeld zwischen Verbraucherrechten auf der einen Seite und den Interessen der Digitalwirtschaft auf der anderen. Um die politischen Entwicklungen im digitalen Europa näher kennenzulernen, lud die SLpB netzpolitisch interessierte Bürgerinnen und Bürger zu einer Bildungsfahrt nach Brüssel ein. Auf dem Programm standen abwechslungsreiche Gesprächstermine mit Vertretern der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, der sächsischen Landesvertretung, der BITKOM sowie mit einer verbraucherschutzorientierten Nicht-Regierungsorganisation (NGO).

Datenschutz, Urheberrecht oder Netzneutralität – wer entscheidet, wer bestimmt?

Für die meisten Europäer ist Brüssel in ihrem Lebensalltag weit entfernt. Zwar sind uns – in der Regel – die europäischen Institutionen noch allgemein bekannt; was diese im Einzelnen aber genau zu entscheiden haben ist für viele von uns schon wieder ein Buch mit sieben Siegeln. Oft kommt dann der pauschale Vorwurf des Lobbyismus. Die wichtigen Entscheidungen träfen doch immer nur die großen Interessenverbände der Wirtschaft, die mit entsprechender Manpower an den Schalthebeln der Macht säßen. Entspricht dieses Bild wirklich der Realität? Jeder Teilnehmer der netzpolitischen Brüssel-Fahrt konnte diese Frage für sich persönlich beantworten. Die Interessenvertretung ist in Brüssel sehr vielfältig und äußerst heterogen. Seine Interessen kann prinzipiell jeder artikulieren. Die europäischen Institutionen stehen grundsätzlich allen Initiativen offen. Die meisten Organisationen nutzen diese Möglichkeiten auch. So finden sich neben NGO’s – die für Bürgerrechte und Grundwerte eintreten – natürlich auch die Verbände der Wirtschaft. Wer seine Interessen letzten Endes durchsetzen kann, muss jeder politisch interessierte Bürger selber beantworten. Mitunter verschwimmen aber auch die harten Grenzen zwischen NGO’s und den Wirtschaftsverbänden. Davon berichtete Kirsten Fiedler, Managing Director bei der European Digital Rights Initiative (EDRi), deren Organisation sich auf EU-Ebene für die Wahrung von Bürgerrechten im Internet engagiert. Die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren sei immer ad hoc und betreffe alle Themen die sie bearbeiten. Nach den Erfahrungen von Frau Fiedler bilden sich Allianzen immer dann, wenn sich Interessen zwischen Wirtschaftsverbänden und NGO’s überschneiden. Bei der Modernisierung des Urheberrechts zum Beispiel sei EDRi Teil einer größeren Koalition, die sich „Copyright for Creativity“ nennt. Ziel dieser Initiative ist es, die verschieden Bestimmungen in Europa zu vereinheitlichen und an den veränderten Bedingungen des digitalen Zeitalters anzupassen.

Von „Schattenberichterstattern“ und „Shadow-Meetings“

Wie die Gesetze in der Praxis verabschiedet werden, lernten die Teilnehmenden beim Besuch des Europäischen Parlaments kennen. In ihm sitzen 751 Abgeordnete aus allen 28 Mitgliedstaaten. Sie werden alle fünf Jahre direkt vom Volk gewählt. Im Vergleich mit den nationalen Parlamenten unterscheidet sich die Arbeitsweise zum Teil erheblich. Trotz umfangreicher Kompetenzausweitungen in den letzten Jahren besitzt das EP bis heute kein Vorschlagsrecht im Gesetzgebungsverfahren. Es obliegt weiterhin der Kommission neue Initiativen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Dennoch: ohne Zustimmung des Parlaments kommt kein Gesetz zustande. Es versteht sich von selbst, dass die Kompromissfindung bei der Vielzahl an divergierenden Interessen nicht ganz einfach ist.

Wie die Parlamentarier unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen arbeiten, erklärte in einem sehr persönlichen Gespräch Herr Lorenz Kramer, wissenschaftlicher Mitarbeiter der sächsischen Europaabgeordneten Frau Dr. Cornelia Ernst. Bevor die Zustimmung für eine Gesetzesinitiative das Parlament passiert, müssen die Interessen von über 200 Parteien aus jedem der 28 Mitgliedstaaten in insgesamt neun Fraktionen mühsam austariert werden. Dazu benennt der zuständige Ausschuss im Europäischen Parlament genau einen Berichterstatter. Dieser erarbeitet federführend die Stellungnahme des gesamten Ausschusses die wiederum Entscheidungsgrundlage für das Plenum ist. Ihm zur Seite stehen die sogenannten „Schattenberichterstatter“. Diese seien aber keine mysteriösen Gestalten, die im Hintergrund agieren, sondern sollen vielmehr sicherstellen, dass sich die Interessen aller Fraktionen in der Stellungnahme wiederfinden. In einem Vielvölkerparlament mit stark divergierenden Interessen kann es nach Meinung von Herrn Krämer auch keine Alternative dazu geben. Herr Krämer kritisierte allerdings die Praxis der vielen sogenannten „Shadow-Meetings“. Darunter verstehen Politik-Analysten eine Form von inoffiziellen Beratungen, bei denen in kleinen Gruppen Kompromisse ausgelotet werden. Nicht selten seien Absprachen unter dem Motto getroffen worden: Gibst du mir so gebe ich dir! Nach Ansicht von Herrn Krämer müssen hier in Zukunft unbedingt transparentere Verfahren gefunden werden, um der zunehmenden Politikverdrossenheit Einhalt zu gebieten.

Europa als Friedensprojekt

Dass Europa mehr ist als nur die Vollendung eines gemeinsamen digitalen Binnenmarkts, betonte Wolf-Eberhard Kuhl, Dienststellenleiter des sächsischen Verbindungsbüros in Brüssel. Er erläuterte den Teilnehmern die Bedeutung der EU als Garant für den dauerhaften Frieden auf dem Kontinent. Dabei handele es sich keinesfalls um eine triviale Angelegenheit, die für alle Zeiten gesichert sei. Noch heute seien die Schrecken der beiden Weltkriege gerade im kleinen Belgien zu spüren. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit in Brüssel habe er ein tiefes Verständnis für diese Befindlichkeiten erlangen können. Vor allem habe sich die deutsche Invasion in Belgien während des Ersten Weltkriegs tief in die Seelen der Belgier eingebrannt. Durch den „Schlieffen-Plan“ sollte der Erbfeind Frankreich unter Missachtung der Neutralität des kleinen Beneluxstaates schnellstmöglich besiegt werden, um die freien Kapazitäten an die Ostfront zu verlagern. Dabei kam es zu Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, die bis heute tief im belgischen Bewusstsein verwurzelt seien. Auch um diese Schrecken ein für alle Mal zu beenden, sei die Idee eines geeinten Europas entstanden.

Der Casus knacksus liegt im Zeitlimit

Und wie sieht nun die Zukunft der Roaming-Gebühren aus? Zunächst hatte die EU-Kommission einen Plan vorgelegt, der für jeden Handynutzer maximal 90 Tage kostenfreies Daten-Roaming pro Jahr im EU-Ausland vorsah. Nach heftigen Protesten von EU-Parlamentariern und Verbraucherschützern zog die Brüsseler Behörde diesen Vorschlag aber wieder zurück. Vielleicht auch ein Beleg, dass es um die Verbraucherinteressen doch nicht so schlecht bestellt ist, wie einige Kritiker immer wieder betonen. Im überarbeiteten Entwurf soll nun ab Mitte des Jahres 2017 das Surfen ohne teure Zusatzgebühren und ohne zeitliche Begrenzung möglich sein. Dem sorgenfreien Versenden des nächsten Urlaubs-Selfies steht also bald nichts mehr im Wege. Ich hoffe, wir erinnern uns bei dieser Gelegenheit wohlwollend an unser doch recht fragiles Projekt Europa. Es bringt uns allen einen konkreten Nutzen, vor allem im Bereich der Netzpolitik.